© Ines-Bianca Hartmeyer / Entdeckerstorys
Savoire-vivre in Westfalen
Zu Besuch auf Schloss Nordkirchen

Savoire-vivre in Westfalen - Zu Besuch auf Schloss Nordkirchen

von GastautorIn am 12.06.2022
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Schloss Nordkirchen trägt den stolzen Beinamen „Westfälisches Versailles“. Was den Gebäudekomplex und insbesondere die Gartenanlagen so besonders macht, erkundeten die Entdeckerstorys im Rahmen einer Schlossführung.

Zeitreise ins Jahr 1902

Ein Wochenende im Juli 1902: Nach dem Kirchgang begibt sich eine Gesellschaft aus dem Dorf auf den Sonntagsspaziergang. An der Nordseite des Schlossgeländes, wo sich heute tausenden von Besuchern jährlich ein spektakulärer Anblick über die Venusinsel auf die barocke Fassade bietet, sehen die Damen und Herren zu diesem Zeitpunkt – nicht viel! Über Bäumen und Sträuchern, zwischen denen ab und an ein wenig Wasseroberfläche hervorblitzt, erhebt sich lediglich ein kleines Stückchen Backsteingiebel, das nur wenig Rückschlüsse auf das wuchtige Gebäude hinter dem üppigen Grün zulässt.

Barock ja – aber neo

Dr. Birgit Beisch, die Themenführungen am Schloss Nordkirchen anbietet, lacht angesichts der verwunderten Gesichter und erklärt, welche Geschichte sich hinter der historischen Fotografie verbirgt: „Viele Menschen denken, dass die Anlagen in ihrem heutigen Zustand dem ursprünglichen Barockgarten entsprechen“, erzählt sie. „Doch dem ist nicht so. Was wir heute hier sehen, ist erst gut 100 Jahre alt. Barock ja – aber eben neobarock! Geplant hat die Gartenanlage der Star unter den Landschaftsarchitekten in der Belle Époque, Achille Duchêne. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es erst seine Planung war, die den Beinamen ,Westfälisches Versailles‘ so fest in den Köpfen der Menschen verankert hat.“

Ritterburg mit Wassergraben

Früher sah es hier also ganz anders aus. Zurück zu den Anfängen: „Ursprünglich war hier eine der typischen befestigten Wasserburgen des Münsterlandes“, weiß Birgit Beisch. Doch nachdem die männliche Linie der Inhaberfamilie Morrien ausgestorben war, stand der Adelssitz, der mit dem Erbmarschall-Amt und seinen begehrten Rechten verknüpft war, zum Verkauf. Eine gute Gelegenheit für den Münsteraner Fürstbischof Friedrich Christian von Plettenberg, der hier einen guten Standort für einen repräsentativen Familiensitz witterte und kurzentschlossen 250.000 Reichstaler investierte.

Da hilft nur Abreißen

Aber die mittelalterlichen Mauern entsprachen nicht seinen barocken Vorstellungen. Tatsächlich hatte Plettenberg nichts weniger als das echte Versailles im Sinn, als er die Umgestaltung in Auftrag gab. Die Burg wurde vermessen, Pläne geschmiedet und wieder verworfen – am Ende reifte der Entschluss: Die alten Gemäuer müssen weg, um der neuen barocken Pracht Platz zu machen! Anders als in den Köpfen vieler Menschen war es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht die spätere Münsteraner Architekturgröße Johann Conrad Schlaun, die sich der Anlage widmete. 1703 erfolgte die Grundsteinlegung nach den Plänen von Barockbaumeister Gottfried Laurenz Pictorius.

Zeit für Johann Conrad Schlaun

Der Fürstbischof selbst erlebte nicht mehr viel von den Baufortschritten: Er verstarb 1706, und sein Erbe ging auf seine männlichen Nachkommen über: zunächst den 18-jährigen Werner Anton von Plettenberg, nach dessen Tod im Juni 1711 auf seinen jüngeren Bruder Ferdinand. Der so oft in einem Atemzug mit Schloss Nordkirchen genannte Schlaun war zu diesem Zeitpunkt immer noch außen vor. Seine Arbeit auf der Baustelle begann erst 1723. Das Schlossgebäude selbst war fast fertiggestellt, für Schlaun blieben die Innenausstattung und die Gestaltung der Gartenanlagen.

Auch die zeigt die Schlossexpertin uns auf Plänen: Viele Wasser-Bassins, diagonal verlaufende Dämme und in der Mitte, wo eigentlich die Sichtachse den Blick auf das prachtvolle Gebäude richten soll, ein von hohen Hecken eingerahmtes Kabinett. Nanu? „Genau“, bestätigt Beisch, „das war eigentlich nicht optimal.“ Offenbar war der Barockbaumeister bei seiner ersten großen Auftragsarbeit in der Region noch nicht ganz so routiniert wie in späteren Jahren, als das Münsteraner Residenzschloss, der Erbdrostenhof oder Haus Rüschhaus entstanden.

Verträumte Pfade statt Achsen

So sollte der Schlaun-Entwurf auch nicht lange Bestand haben. Rund 100 Jahre später war der ungarisch-österreichische Hochadel auf Schloss Nordkirchen eingezogen. Maria von Plettenberg, offenbar eine energische junge Frau, hatte sich das Recht erstritten, mangels männlicher Nachkommen als weibliche Vertreterin den Adelssitz übernehmen zu dürfen. Am Wiener Hof hatte die reiche Erbin freie Auswahl – und entschied sich 1833 für den ungarischen Grafen Nikolaus Franz Esterházy de Galantha. Der Mode folgend beauftragte das illustre Paar den Düsseldorfer Maximilian Friedrich Weyhe, Schlossinsel und Nordgarten in einen englischen Landschaftsgarten mit Baumgruppen, Weihern und verträumten Pfaden umzuwandeln. Und in eben diesem Zustand wird die eingangs erwähnte Gruppe von Spaziergängern Anfang des 20. Jahrhunderts das Areal vorgefunden haben.

Die Geburt des „Westfälischen Versailles“

Die Geburtsstunde der heutigen Gartenanlage, die zu einer der beeindruckendsten Europas zählt, schlug mit dem neuen Besitzer Herzog Engelbert-Maria von Arenberg, der Güterkomplex samt Schlossinventar am 1. Oktober 1903 für sechs Millionen Mark (heute gut 42 Millionen Euro) erwarb. „Reich geworden durch den Kohlebergbau im Ruhrgebiet, kannte er sich mit großen Erdbewegungen aus“, weiß Dr. Birgit Beisch auch hier die Hintergründe. Denn die waren nötig, als der Pariser Maître Achille Duchêne, führender Gestalter neobarocker Gärten nach französischem Vorbild, sein monumentales Werk anging und mit technischen Hilfsmitteln aus dem Bergbau im Nordgarten langsam die heute so selbstverständlich wirkende rechteckige Insel mit Terrasse, Freitreppe und Parterres entstand.

Eine Bühne für ein Schloss

Das Konzept war denkbar einfach: „Im Mittelpunkt steht immer das Schloss – wie auf einer Bühne“, zeigt die Expertin auf die Fassade, die zwischen dem satten Grün des Kastanienlaubs apart hervorleuchtet. Symmetrie und Sichtachsen tragen zu dem effektvollen Auftritt des Gebäudekomplexes ebenso bei, wie Wasserflächen, Formgehölze und Skulpturen, die eine plastische Wirkung erzeugen. „Entstanden ist genau der repräsentative Eindruck, den Arenberg sich gewünscht hat“, bekräftigt Beisch, „und das funktioniert auch heute noch ganz hervorragend!“

Savoir-vivre zum Abschluss

Die bewundernden „Ahs!“ der Besucher und Besucherinnen, die sich am großen Wasserbassin auf Fotojagd begeben, belegen das. Und auch diejenigen, die eigentlich wegen Johann Conrad Schlaun vorbeigeschaut haben, kommen auf ihre Kosten: Neben Teilen der Innenausstattung war Münsters Baumeister für die Aufstockung der benachbarten Oranienburg, die als Sommer- und Konzertschloss diente, zuständig. Es ist der Ort, den wir – immer noch auf den Spuren unserer Sonntagsgesellschaft von der Jahrhundertwende – für unser abschließendes Picknick wählen. Auf der Wiese vor der Fassade aus Backstein und Baumberger Sandstein lassen wir den Blick ein letztes Mal über den Westgarten Richtung Hauptschloss wandern und genießen die prall gefüllte Münsterländer Picknickkiste, die wir zuvor in der Touristeninformation Nordkirchen abgeholt haben.

Savoir-vivre vor herzoglicher Kulisse: In diesem Moment ist er ganz deutlich spürbar, der Hauch von Frankreich in Westfalen!

Insider Tipp

Führungen

Spontane Besucherinnen und Besucher können sich sonn- und feiertags zwischen 11 und 16 Uhr (beziehungsweise 17 Uhr in den Sommermonaten) jeweils zur vollen Stunde einer 45-minütigen öffentlichen Führung durch das Schloss anschließen. Kosten: vier Euro pro Person. Jeweils am ersten Sonntag im Monat gibt es eine erweiterte Schloss- und Gartenführung für acht Euro. Auch reine Gartenführungen sind möglich (auf Anmeldung täglich von 9 bis 18 Uhr). Für größere Gruppen lohnt sich eine Privatführung mit Voranmeldung. Die kleinere Tour kostet insgesamt 40 Euro, die Führung durch Schloss und Gartenanlagen 80 Euro. Link: https://www.nordkirchen.de/de/gemeinde/startseite

Lust auf ein Picknick?

Picknickkörbe können (mit einem Vorlauf von drei Tagen) bei der Tourist-Information im Ortskern von Nordkirchen vorbestellt werden:

Schloßstraße 11
59394 Nordkirchen
Tel.: 02596 917-500
tourismus@nordkirchen.de

Weitere Informationen findet ihr auch unter: www.schloss.nordkirchen.net

Zur Autorin

Dieser Beitrag wurde verfasst von unserer Gastbloggerin Ines-Bianca Hartmeyer. Ihr wollt mehr von Ines-Bianca lesen? Besucht Sie auf ihrem Blog unter: www.entdeckerstorys.de

Dieser Blogbeitrag wurde unterstützt durch das EFRE-Förderprojekt “Schlösser- und Burgenregion Münsterland".

Preise für die öffentlichen Führungen am Schloss Nordkirchen

Preise Öffentliche Führung | Schlossbesichtigung
  • Erwachsene: 4,00 €
  • Kinder: 6-12 Jahre 2,00 €
  • Kinder: unter 6 Jahre 0,00 €

Jeweils an Sonntagen und Feiertagen stündliche Führungen

Mai bis September: 11:00 bis 17:00 Uhr

Oktober bis April: 14:00 bis 16:00 Uhr

Ein Anmeldung ist nicht notwendig. Treffpunkt ist die Schlosskapelle im Innenhof des Schlosses. Die Führungen dauern 45-60 Minuten.


Gruppenführungen nur mit Anmeldung: 

Pro Person 4,00 € | Mindestpreis pro Gruppe 40,00 

Preise Öffentliche Führung | Kombiführungen Schloss & Park
  • Erwachsene: 8,00 €
  • Kinder: 6-12 Jahre 4,00 €
  • Kinder: unter 6 Jahre 0,00 €

Jeweils am 1. Sonntag im Monat findet eine öffentliche Kombiführung durch Schloss und Park statt

April bis Oktober 13:30 - 15:00 Uhr

Eine Anmeldung ist nicht erforderlich

Preise Öffentliche Führung | Park
  • Erwachsene: 5,00 €
  • Kinder: 6 - 12 Jahre 3,00 €
  • Kinder: unter 6 Jahre 0,00 €

Parkführungen finden nach vorheriger Anmeldung statt.

Mindestpreis für Gruppen 50,00 €


Lageplan Schloss Nordkirchen

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