Maitour am 1. Mai, Schachtelkranz aufhängen zum 25. Geburtstag einer jungen und unverheirateten Frau, Kranz aufhängen zum Jubiläum. Die Liste der Bräuche, die es im Münsterland gibt, ist lang. Dabei kann sich manch Münsterländerin und Münsterländer damit brüsten, dass es einzigartige regionale Bräuche sind. Was dem Bayer seine Leonhardifahrt ist, ist dem Münsterländer seine Maitour.
Nun gibt es aber tatsächlich einen Ort, der dem Ganzen die Krone aufsetzt: Die Stadt Borken. Hier hat sich ein Brauch erhalten, den es selbst im gesamten Münsterland kein zweites Mal gibt und der über die Borkener Grenzen kaum bekannt ist. Es ist die Maitremsenfeier, ein alter Nachbarschaftsbrauch.
Tremse ist der Begriff für den Nachbarschaftsbrauch, aber gleichzeitig auch die Bezeichnung des glockenförmigen Gebildes, das in der Straße oder auf dem Platz aufgehängt wird. Für die, die jetzt eine ausschweifende Begriffserklärung des Namens Tremse erwarten: Es ist und bleibt ein Mysterium.
Die Ur-Tremse, die auf dem Platz vor dem alten Rathaus aufgehängt wird, wird heutzutage von den Mitgliedern des Heimatverein Borken e.V. gebastelt. Sie besteht aus einem Drahtgestell, das mit Girlanden, Fächern und Fähnchen aus Papier geschmückt ist. Darüber hängen lange Eierketten. Im Inneren der geschmückten Glocke hängt eine weiße Holztaube, die sogenannte Duwe.
Auch wenn die Geschichten von früher oft verstaubt sind, lohnt sich ein Blick zurück auf die ursprüngliche Maitremsenfeier. Denn diese wurde Mitte des 20. Jahrhunderts noch etwas anders gefeiert als heute.
Das Fest wurde am Nachmittag des 1. Mai von einer Nachbarschaft gefeiert. Die ältesten schulpflichtigen Mädchen dieser Nachbarschaft organisierten das Fest. Um das nötige Kleingeld für die Ausrichtung dieser Nachbarschaftsparty zu bekommen, wurden alle Kinder der Nachbarschaft eingespannt. Durch Straßensammlungen bekamen sie genug Geld zusammen, um Kuchen und Kakao zu kaufen. An langen Tischreihen auf der Straße wurden dann die jüngeren Kinder von den älteren Mädchen bewirtet. Die älteren schulpflichtigen Jungen dagegen sorgten für das Aufstellen des Maibaums. Auch hier hat Borken Eigensinn bewiesen, denn es muss bis heute eine Kiefer sein.
Und wie zu jeder guten Party gehörte auch hier das Singen und Tanzen dazu – allerdings unter der Tremse und um den Baum, nicht auf einem Dancefloor.
Heutzutage findet der Brauch an einem Nachmittag vor dem 1. Mai statt. Die Maitremse hängt, jedoch nicht mehr in jeder Nachbarschaft. Unter der Ur-Tremse auf dem Platz vor dem alten Rathaus versammeln sich die Kinder und zeigen ihre einstudierten Tänze und Gesänge mit Live-Musik einer Akkordeonspielerin und einer Sängerin. Das hilft auch mal, wenn die Melodie nicht bekannt ist oder die Lyrics fehlen. Beim Mitsingen von Radiosongs trauen wir uns auch mehr als beim Karaoke-Singen, oder? Wer nicht textsicher ist, bekommt ein Liederheft vom Heimatverein in die Hand gedrückt und im Zweifel singt man nur ganz leise mit.
Die Kinder bilden einen großen Kreis. Ganz außen und auf den aufgestellten Bierzeltgarnituren drängen sich die stolzen Eltern und Großeltern. In der Mitte gibt es ausgewählte Grundschulkinder, die die einstudierten Tänze zeigen. Aber es gibt auch Stücke, bei denen alle Mutigen mittanzen dürfen oder sich sogar für eine Rolle durch Fingerheben bewerben können – die Auswahl treffen dann die Kinder in der Mitte.
Neben altbekannten Melodien („Das Wandern ist des Müllers Lust“) und uralten Geschichten (Dornröschen) gibt es auch Lieder auf Borkener Plattdeutsch.
Nach einer Stunde ist die Feier vorbei. Für alle Kinder, die mitgemacht haben, gibt es einen Eisgutschein. Die kleineren Grundschulkinder lassen sich sicher noch einfacher begeistern als die Großen. Traditionen wie diese, ebenso wie die einzelnen Abstufungen des Münsterländer Platt, verschwinden schleichend. Erst haben alle mitgemacht, dann kennt man es nur noch, am Ende hat man vielleicht mal was davon gehört.
Brauchtum trägt den „Blick zurück“ in die Gegenwart. Von „brauchen“ ist wahrscheinlich bei den meisten nicht die Rede. Aber es ist ein Stück Heimat für die einen, ein Stück Identität für die anderen, ein Stück Stolz für die restlichen. Es ist ein unsichtbares Band, das diese Menschen eines Ortes miteinander verbindet und ein Stück Land zu einer Heimat werden lässt. Brauchtum vermittelt Gemeinschaft und kann Sicherheit geben für die, die neue Wurzeln schlagen wollen oder ihre Geschichte weitergeben möchten.
Wir sollten Tradition nicht verschmähen. Es hilft ein kritischer Blick - nicht alles ist heutzutage noch passend oder wird allen gerecht. Dennoch ist es schön, Brauchtum feiern zu können. Es ist ein Stück Verlässlichkeit in unsteten Zeiten.